Zeitenwende im Kartellrecht – die 11. GWB-Novelle
Kurz vor den Ostertagen hat das Bundeskabinett den Regierungsentwurf der 11. GWB-Novelle (Reg-E) verabschiedet. Obwohl der Referentenentwurf umfassende Kritik auf sich gezogen hatte, hat sich an der Schlagkraft der Novellierung durch den Reg-E nur wenig geändert. Damit ist das Gesetzgebungsverfahren noch nicht beendet, aber die inhaltliche Richtung scheint sehr klar.
Hatten Behördenvertreter bei öffentlichen Diskussionen des Referentenentwurfs noch Begriffe wie „Zeitenwende“ oder „Paradigmenwechsel“ abgetan, so sprach selbst Bundesminister Dr. Robert Habeck auf der Pressekonferenz am 5. April 2023 von der „größten Reform des Wettbewerbsrechts seit Jahrzehnten“, und der „vielleicht größten Reform seit Ludwig Ehrhart“.
Was macht die Änderungen so besonders?
Laut Regierungsentwurf wird das Bundeskartellamt (BKartA) in Zukunft unter bestimmten Voraussetzungen auch intensivste Eingriffe in Märkte und bei Unternehmen vornehmen können, ohne dass ein Kartellverstoß festgestellt wurde. Diese neuen Eingriffsbefugnisse sind an eine vorherige Sektoruntersuchung geknüpft. Diese soll nunmehr bereits nach 18 Monaten abgeschlossen werden.
Die 11. GWB-Novelle führt auch zu weiteren Anpassungen, die etwa durch die inzwischen erfolgte Verabschiedung des europäischen Digital Markets Acts (DMA) begründet sind. Der Fokus liegt im Folgenden jedoch auf der erheblichen Absenkung der Voraussetzungen für eine Vorteilsabschöpfung. Diese Änderung und die neuen Befugnisse des BKartA im Zusammenhang mit Sektoruntersuchungen haben bemerkenswerte Auswirkungen auf Unternehmen und die Kartellrechtspraxis. Sie werden im Folgenden näher betrachtet.
Sektoruntersuchung und nachfolgende Befugnisse
Das Herzstück der Novelle besteht in den neuen Eingriffsbefugnissen des BKartA im Nachgang zu einer Sektoruntersuchung. Blieb in der Vergangenheit eine Sektoruntersuchung für die Unternehmen weitestgehend ohne Folgen, kann das Amt in Zukunft im Nachgang unmittelbar in betroffene Märkte eingreifen. Ein Kartellrechtsverstoß eines Unternehmens muss dafür nicht festgestellt werden. Die Befugnisse lassen sich wie folgt untergliedern:
- Fusionskontrolle: Sofern auch nur „objektiv nachvollziehbare Anhaltspunkte“ bestehen, dass eine weitere Konzentration durch M&A-Transaktionen in bestimmten Märkten den wirksamen Wettbewerb erheblich behindern könnten, kann das BKartA nach § 32f Abs. 2 Reg-E eine erheblich niedrigschwelligere Fusionskontrollpflicht verfügen. Eine Meldepflicht gilt dann für alle Zusammenschlüsse, solange nur der Erwerber Inlandsumsätze von mehr als 50 Millionen Euro und das Zielunternehmen (weltweit) Umsätze von mehr als 500.000 Euro hat. Das bedeutet, dass ausgewählte Unternehmen für zunächst drei Jahre faktisch alle Transaktionen beim BKartA zuvor anmelden werden müssen. Eine vergleichbare Regelung wurde bereits mit der 10. GWB-Novelle in § 39a GWB eingeführt, der mit Einführung der Neuregelung dann gestrichen wird.
- Abhilfemaßnahmen: Stellt das Amt „eine erhebliche und fortwährende Störung des Wettbewerbs“ fest, kann es den betroffenen Unternehmen gemäß § 32f Abs. 3 Reg-E „alle Abhilfemaßnahmen verhaltensorientierter und struktureller Art“ vorschreiben. Die Formulierung der möglichen Maßnahmen ist dabei sehr offen gehalten. So wird dem BKartA ein möglichst breiter Anwendungsspielraum gegeben. Nur beispielhaft nennt der Regierungs-Entwurf mögliche Maßnahmen wie etwa Vorgaben zu Geschäftsbeziehungen und Vertragsformen, Informationsoffenlegungspflichten, Schnittstellenöffnungen, aber auch die organisatorische Trennung von Geschäftsbereichen. Der Begriff der „Wettbewerbsstörung“ ist dem GWB bislang unbekannt und der Regierungsentwurf bemüht sich um eine Konkretisierung in § 32f Abs. 5. Gerade aus den dort enthaltenen Beispielen wird erneut deutlich, dass ein Kartellrechtsverstoß gerade nicht vorliegen muss. Vielmehr wird es um die Bewertung von Marktstrukturen und individueller Marktstärke im Einzelfall gehen, um eine Störung des Wettbewerbs festzustellen.
- Entflechtung: Zuletzt kann das Amt als ultima ratio bestimmte Unternehmen unter strengen Voraussetzungen auch zu einer Veräußerung von Unternehmensanteilen oder Vermögen verpflichten. Der Regierungsentwurf hat gerade im Hinblick auf die Entflechtung den Regelungsvorschlag gegenüber dem Referentenentwurf erheblich verschärft. Zudem wurde eine Entschädigungsregelung eingefügt, um verfassungsrechtlichen Bedenken an einer Entflechtungsregelung zu begegnen.
Vereinfachung der Vorteilsabschöpfung
Die Vorteilsabschöpfung ist im GWB nicht neu. § 34 gilt derzeit jedoch als „totes Recht“, da die Norm in der Praxis nicht angewandt wurde. Der Gesetzgeber will mit den Änderungen die Vorteilsabschöpfung zu neuem Leben erwecken. Dahinter steckt der Gedanke, dass durch Kartellrechtsverstöße erlangte wirtschaftliche Vorteile nicht bei den Kartelltätern verbleiben sollen. Im Rahmen von Bußgeldverfahren dürfte dies aufgrund der hohen Bußgelder und der regelmäßig nachfolgenden privaten Schadensersatzverfolgung auch nicht der Fall sein. Es ist zu erwarten, dass die neue Vorteilsabschöpfung eher im Bereich der Missbrauchskontrolle eine Rolle spielen wird.
Doppelte „Vermutungsregelung“
Das Besondere an der Neufassung ist eine doppelte Vermutungsregelung. Zunächst gilt nach dem Regierungsentwurf die gesetzliche Vermutung, dass ein Kartellrechtsverstoß einen wirtschaftlichen Vorteil verursacht hat. Dessen Höhe soll das BKartA schätzen dürfen. Die zweite Vermutung bezieht sich jedoch auf die Höhe des wirtschaftlichen Vorteils. So wird gesetzlich vermutet, dass der wirtschaftliche Vorteil mindestens 1% der tatbezogenen Umsätze beträgt.
Es wurden bereits Stimmen laut, wonach die doppelte Vermutungsregelung im Regierungsentwurf eigentlich gesetzgeberische Augenwischerei ist. So werden Vermutungsregeln üblicherweise als gesetzgeberisches Mittel zur Allokation der Beweislast bzw. des Beweislastrisikos verwendet. Inhärent ist solchen Regelungen, dass die Widerlegung einer Vermutung für den Beweisbelasteten zumindest möglich sein muss.
Widerlegung faktisch unmöglich
Dies dürfte man für § 34 Reg-E jedoch nahezu ausschließen können. Die Neufassung regelt, dass gegen die Vermutung nicht vorgebracht werden kann, dass kein wirtschaftlicher Vorteil oder ein Vorteil in nur geringer Höhe angefallen sei. Die Vermutung kann vielmehr nur dann widerlegt werden, wenn der weltweite Gewinn (!) der gesamten Unternehmensgruppe im gesamten Abschöpfungszeitraum geringer war als die Bezugsgröße von 1% der tatbezogenen Umsätze. Wer nun versucht, sich dies mit ein paar praktischen Beispielen zu veranschaulichen, erkennt schnell, dass eine Widerlegung der Vermutung in nahezu allen Fällen unmöglich ist.
Was bedeutet das für Unternehmen?
Sektoruntersuchungen werden in Zukunft risikoreicher und anstrengender. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen bilden die Grundlage, mit der das BKartA verhaltensorientierte oder strukturelle Abhilfemaßnahmen begründen kann. Um solche Maßnahmen verhängen zu können, muss das BKartA eine „erhebliche und fortwährende Marktstörung“ nachweisen.
Es ist damit zu rechnen, dass das BKartA noch umfassendere Auskunftsersuchen stellen wird. Unternehmen müssen sich möglicherweise auch auf kürzere Antwortfristen einstellen, da das BKartA eine Sektoruntersuchung innerhalb von 18 Monaten abschließen soll. Oft übersehen wird zudem, dass Unternehmensdurchsuchungen (sog. Dawn Raids) auch im Rahmen von Sektoruntersuchungen möglich sind, bei der in Zukunft nach dem Willen des Gesetzgebers auch Beschlagnahmen nach § 58 GWB möglich sein sollen. Ob diese Ermittlungsmaßnahme in Sektoruntersuchungen in Zukunft häufiger genutzt werden wird, bleibt abzuwarten.
Es ist entscheidend, Sektoruntersuchungen des BKartA in Zukunft sehr ernst zu nehmen. Unternehmen sollten sich bewusst sein, dass die Einleitung einer Sektoruntersuchung der Beginn eines Ermittlungsverfahrens ist und frühzeitig eine Verteidigungslinie entwerfen.
Es ist schwer abzuschätzen, wie oft in Zukunft verhaltensorientierte oder strukturelle Abhilfemaßnahmen verhängt werden. Das scharfe Schwert der Entflechtung erscheint derzeit aufgrund der gesetzgeberischen und prozeduralen Hürden für das Amt möglicherweise eher unattraktiv.
Wir gehen jedoch davon aus, dass verhaltensbezogene und strukturelle Abhilfemaßnahmen sowie die Verpflichtung zur erweiterten Fusionskontrolle eher zur Regel als zur Ausnahme werden dürften. Die Eingriffshürden für das BKartA sind nicht besonders hoch. Zudem wird das BKartA sich nicht den Vorwurf machen lassen wollen, dass es die neuen Werkzeuge nicht nutzt oder ggf. die „falschen“ Märkte für eine Sektoruntersuchung ausgesucht hat.
Auch die Anpassungen der Vorteilsabschöpfung werden Auswirkungen auf Unternehmen und besonders auf die Kartellrechtspraxis haben. Zwar dürfte eine Anwendung in Bußgeldverfahren ein Ausnahmefall bleiben. Gerade in Missbrauchsverfahren bekommt das BKartA durch die Vorteilsabschöpfung aber ein mächtiges neues Werkzeug. Das Drohpotential einer Vorteilsabschöpfung bei der Feststellung eines Kartellverstoßes in einer Abstellungsverfügung dürfte regelmäßig erheblich sein. Und so mag sich manches Unternehmen im Rahmen der Abwägung von eventuellen Verpflichtungszusagen (zur Vermeidung der Feststellung eines Verstoßes) dazu gedrängt fühlen, ggf. sogar überschießende Verpflichtungszusagen zu akzeptieren.