Sinn des Strafrechts und Grundsätze des Strafprozessrechts
Neue Beitragsserie zu den Grundlagen im Strafprozess und Wirtschaftsstrafrecht
In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – der Ausdruck dürfte vielen ein Begriff sein. Doch was sagen dieser und andere rechtsstaatliche Grundsätze genau aus? Warum gibt es Strafen überhaupt und welchen Zweck erfüllen sie? Was Kant hierzu zu sagen hatte und wie das Strafverfahren heute abläuft, erklären wir in diesem Beitrag als Auftakt zu unserer Basic-Reihe „Grundlagen des Strafverfahrens“.
Im Rahmen dieser Reihe werden wir außerdem alles Relevante zum Ablauf des Ermittlungsverfahrens, zur Rolle des Rechtsanwalts vor Gericht bis hin zu den relevantesten Tatbeständen des Wirtschaftsstrafrechts erläutern.
Aufgaben des Strafrechts
Um die staatliche Gemeinschaft zu erhalten und den Rechtsfrieden innerhalb der Gesellschaft zu wahren, benötigen wir Regeln. Ein gedeihliches menschliches Zusammenleben ist ohne kaum vorstellbar, weswegen ein breites Regelwerk geschaffen wurde. Beispielsweise bieten zivilrechtliche Schadensersatzansprüche allein nicht immer ausreichenden Rechtsgüterschutz. Daher bedarf es der Existenz des Strafrechts, mit dem bestimmte sozialschädliche Verhaltensweisen verboten werden.
Das Strafrecht beruht auf der Werteordnung unserer Verfassung und hat die Aufgabe, die elementaren Grundwerte des Gemeinschaftslebens zu sichern und den Rechtsfrieden zu wahren. Im Konfliktfall soll das Strafrecht das Recht gegenüber dem Unrecht durchsetzen.
Da der Täter selbst auch Träger von Grundrechten ist, sind Strafvorschriften „ultima ratio“, also das letzte Mittel, für besonders sozialschädliches Verhalten. Sie kommen nur dort zum Tragen, wo das Zivilrecht oder das (sonstige) öffentliche Recht nicht ausreichen. Doch welchen Zweck hat die Bestrafung eines Täters?
Sinn und Zweck des Strafens
Der Frage, worin eigentlich der Sinn und Zweck des Strafens besteht, wird seit eh und je nachgegangen. Verschiedene Strafzwecktheorien haben sich hieraus entwickelt. Es wird zwischen den absoluten und relativen Strafzwecktheorien unterschieden. Zu ersteren gehören die Vergeltungstheorie, die noch auf Kant und Hegel zurückgeht, und die Sühnetheorie. Der Sinn der Strafe ist danach die Durchsetzung der Gerechtigkeit: Schuld und Sühne sollen um jeden Preis ausgeglichen werden, soziale Aspekte spielen keine Rolle.
Die relativen Straftheorien sehen hingegen den Zweck des Strafrechts darin, der künftigen Begehung von Straftaten vorzubeugen. Aufgabe des Strafrechts ist nach diesen Theorien zum einen die Generalprävention, nach der das Vertrauen in die Rechtsordnung gestärkt und gleichzeitig die Gesellschaft von der Begehung einer Tat abgehalten werden soll, und zum anderen die Spezialprävention, bei der es um den Straftäter selbst geht: Dieser soll abgeschreckt und resozialisiert werden.
Aus den absoluten und relativen Strafzwecktheorien haben sich die sogenannten Vereinigungstheorien entwickelt. Die Rechtsprechung wendet hierbei eine vorrangig vergeltende Vereinigungstheorie an, wonach die Strafe durch die Schuld begründet und begrenzt wird. Der Vergeltungsgedanke ist in § 46 Abs. 1 S. 1 StGB enthalten: Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Strafzumessung. Nach Satz 2 der Norm sind jedoch auch die Wirkungen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind, zu berücksichtigen. Damit hat die Spezialprävention Einzug in das StGB gehalten. Der Gedanke der Generalprävention lässt sich § 47 Abs. 1 StGB entnehmen. Danach darf eine Freiheitsstrafe unter sechs Monaten nur verhängt werden, wenn besondere Umstände die Verhängung einer solchen unter anderem zur Verteidigung der Rechtsordnung unerlässlich machen.
Der Strafprozess
Die Vorschriften, die bestimmte Verhaltensweisen unter Strafe stellen (das sog. „materielle“ Strafrecht), finden sich insbesondere im Strafgesetzbuch (StGB). Dort ist beispielsweise geregelt, dass sich strafbar macht, wer einen Diebstahl oder eine Körperverletzung begeht.
Der Strafprozess ist ein geordneter Vorgang zur Gewinnung einer richterlichen Entscheidung über das materielle Recht. Ziel des Strafprozesses ist die Schaffung des Rechtsfriedens und nicht die Überführung des Angeklagten. Das Verfahren dient der Wahrheitsfindung. Das Gericht und zuvor die Staatsanwaltschaft müssen daher die Sache von Amts wegen aufklären.
Die Strafprozessordnung (StPO) regelt, welche Rechte und Pflichten die Beteiligten haben. Da der Beschuldigte Subjekt der Untersuchung ist, werden insbesondere dessen Rechte geschützt. Dadurch soll die Gewährleistung eines rechtsstaatlichen Verfahrens mit der Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs in Ausgleich gebracht werden. Das Strafverfahrensrecht ist dem öffentlichen Recht zuzuordnen. Im Strafprozess sitzen sich, anders als im Zivilprozess, keine bürgerlichen Parteien gegenüber. Der Staat macht dem Angeklagten „den Prozess“.
Ablauf des Strafverfahrens
Damit die Rechte aller Beteiligten gewahrt bleiben und die Rechtsstaatlichkeit gewährleistet ist, ist der Ablauf eines Strafverfahrens klar geregelt. Es untergliedert sich in das Erkenntnisverfahren und das Vollstreckungsverfahren. Das Erkenntnisverfahren besteht aus drei Teilen:
- Ermittlungsverfahren (auch Vorverfahren genannt)
- Zwischenverfahren
- Hauptverfahren
Ein Strafverfahren kann auf verschiedenen Wegen in Gang gesetzt werden. Häufigster Fall ist die Erstattung einer Strafanzeige. So kann jeder Bürger bei der Staatsanwaltschaft oder Polizei schriftlich oder mündlich einen Sachverhalt anzeigen, von dem er glaubt, dass er Anlass für eine Strafverfolgung bietet. Die Ermittler müssen den geschilderten Sachverhalt sodann daraufhin überprüfen, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. Kenntnis von dem Verdacht einer Straftat können die Strafverfolger auch auf andere Weise erhalten, z. B. über Medienberichte. In diesem Fall muss die Strafverfolgungsbehörde von Amts wegen überprüfen, ob ein Ermittlungsverfahren einzuleiten ist. Ein Ermittlungsverfahren setzt einen Anfangsverdacht voraus. Das Gesetz spricht hierbei von „zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten“ (§ 152 Abs. 2 StPO). Ist eine verdächtige Person bekannt, richten sich die Ermittlungen gegen diese als beschuldigte Person. Ansonsten wird zunächst gegen „Unbekannt“ ermittelt.
Das Ermittlungsverfahren ist der erste Verfahrensabschnitt und dient der Erforschung und Aufklärung des Sachverhalts. Verfestigt sich der Anfangsverdacht durch die Ermittlungen zu einem hinreichenden Tatverdacht, also bieten die Ermittlungen „genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage“, so erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage durch Einreichung einer Anklageschrift bei dem zuständigen Gericht, § 170 Abs. 1 StPO. Ein hinreichender Tatverdacht wird bejaht, sofern die überwiegende Wahrscheinlichkeit (also > 50 %) einer Verurteilung anzunehmen ist. Andernfalls wird das Verfahren eingestellt, § 170 Abs. 2 StPO.
Entscheidet sich die Staatsanwaltschaft zur Anklageerhebung, geht das Verfahren in das Zwischenverfahren über (§§ 199 – 211 StPO). Hier überprüft das Gericht als unabhängige „zweite Instanz“ noch einmal, ob tatsächlich ein hinreichender Tatverdacht besteht. Falls nicht, ergeht ein Nichteröffnungsbeschluss. Das Gericht lehnt damit die Eröffnung der Hauptverhandlung ab. Anderenfalls wird die Anklage zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren durch einen Eröffnungsbeschluss eröffnet.
Der Gang der Hauptverhandlung ist in § 243 StPO geregelt und folgt einem strengen Ablauf. Wesentlicher Teil der Hauptverhandlung ist die Beweisaufnahme. Dabei werden z. B. Zeugen vernommen oder Sachverständigengutachter gehört. Ziel der Beweisaufnahme ist es, den wahren Tathergang zu ermitteln. Das Gericht entscheidet auf Grundlage der Beweisaufnahme, ob es von der Schuld des Angeklagten überzeugt ist. Entsprechend ergeht das Urteil, entweder in Form eines Schuldspruchs oder eines Freispruchs.
Die wichtigsten rechtsstaatlichen Grundsätze
Während des gesamten Strafverfahrens gelten verschiedene Grundsätze, sogenannte Prozessmaximen, die ein rechtstaatliches Verfahren gewährleisten sollen. Einige von den grundlegendsten Maximen werden an dieser Stelle kurz erläutert:
Das Legalitätsprinzip bezeichnet die Verpflichtung von Polizei und Staatsanwaltschaft, beim Vorliegen des Verdachts einer Straftat Ermittlungen aufzunehmen. Dafür reicht es aus, wenn sie von Tatsachen Kenntnis erlangen, die die Begehung einer Straftat als möglich erscheinen lassen. Das Legalitätsprinzip korreliert direkt mit dem Anklagemonopol der Staatsanwaltschaft: Wenn nur sie die Möglichkeit hat, Straftaten zur Anklage zu bringen, dann muss sie auch verpflichtet sein, allen Verdachtsmomenten, unabhängig von Person oder Straftat nachzugehen. Um die Justiz trotzdem nicht mit Bagatelldelikten zu überlasten, gibt es Ausnahmen zum Legalitätsprinzip. Bei Straftaten von geringer Schwere kann die Staatsanwaltschaft z.B. von einer Verfolgung absehen und das Verfahren aus Opportunitätsgründen einstellen (§§ 153 ff. StPO).
Der „nemo tenetur“-Grundsatz gehört zu einem der wichtigsten Prinzipien: Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu belasten. Jeder einer Straftat Verdächtige darf frei entscheiden, ob er sich zum Tatvorwurf äußern möchte oder von seinem Schweigerecht Gebrauch macht. Auch Zeugen dürfen ihre Aussage verweigern, wenn sie sich selbst belasten würden.
Zu dem wohl bekanntesten Grundsatz im Strafverfahren zählt „in dubio pro reo“ („Im Zweifel für den Angeklagten“). Er bedeutet nicht, dass jedes Detail der Tat nachgewiesen werden muss. Der Grundsatz kommt erst zur Anwendung, wenn alle Tatsachen und Beweisergebnisse erhoben wurden. Das Gericht muss alle Ergebnisse betrachten und aufgrund dessen entscheiden, ob es von der Begehung der Tat durch den Angeklagten überzeugt ist. Wenn tatsächliche Zweifel verbleiben, greift der Zweifelssatz und das Gericht muss den Angeklagten freisprechen.
Das Schuldprinzip gehört ebenfalls zu den wichtigsten Grundsätzen des Strafprozesses. Danach darf nur bestraft werden, wem sein Rechtsbruch persönlich zum Vorwurf gemacht werden kann. Sonst, so urteilt das Bundesverfassungsgericht, sei Strafe eine „mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat“ (BVerfGE 20, 323, 331).