Kein Beweisverwertungsverbot für „EncroChat“-Daten
„Nach Encrochat-Auswertung: Drogen-Razzia in Berlin – mehrere Festnahmen“ titelte eine große deutsche Boulevard-Zeitung. Für den geneigten Zeitungsleser klingt „EncroChat“ nach High-Tech-Polizeiarbeit. In der juristischen Welt rankt sich hingegen eine hitzige Debatte um die Frage: Darf eine „EncroChat-Auswertung“ überhaupt als Beweis einer Straftat genutzt werden?
Der Bundesgerichtshof (BGH) entschied hierüber bereits im Februar und verwarf die Revision gegen ein auf Grundlage von „EncroChat“-Daten ergangenes Urteil als offensichtlich unbegründet. In einer zweiten Entscheidung im März setzte sich der BGH hiermit nun ausführlich auseinander. Er kam zu einem vieldiskutierten Ergebnis: ein Beweisverwertungsverbot bestehe „unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt“.
Was ist „EncroChat“?
In den Jahren 2017 und 2018 kam es in Frankreich vermehrt zu Hinweisen, dass verschiedene Arten der organisierten Kriminalität, insbesondere der Drogenhandel, über Kryptohandys des Anbieters „EncroChat“ abgewickelt wurden. Dabei handelte es sich um Smartphones mit einer modifizierten Version des Android-Betriebssystems, die eine anonyme und abhörsichere Kommunikation ermöglichen sollten. Dazu wurden die über ein spezielles Messaging-Programm verschickten Nachrichten verschlüsselt und beim Versenden über einen firmeneigenen Server geleitet.
Außerdem wurden bei den Geräten die Vorrichtungen für GPS-, Kamera- und Mikrofon-Funktionen entfernt und eine „Wipe-Funktion“ installiert, mit der alle auf dem Gerät gespeicherten Inhalte schnell und einfach gelöscht werden konnten. Schließlich konnte der Nutzer eines „EncroChat“-Phones von dem inkriminierenden Betriebssystem zu einem „normalen“ Android-Betriebssystem wechseln, um den Eindruck eines gewöhnlichen Smartphones zu erwecken.
Abfangen, Auswerten und Verwerten – das „EncroChat“-Verfahren
Im Laufe der eingeleiteten Ermittlungsverfahren gelang den französischen Behörden der Zugriff auf die verschlüsselten Daten. Die Behörden nutzten hierfür Mittel, die der Geheimhaltung der nationalen Verteidigung unterliegen und deren Funktionsweise nicht rekonstruiert werden kann. Bekannt ist nur, dass eine Schadsoftware per „Ferninjektion“ auf die Geräte aufgespielt wurde, die Nachrichten vor der Verschlüsselung abgefangen und auf behördliche Server umgeleitet hat. Die so gewonnenen Rohdaten wurden daraufhin in Excel-Tabellen überführt und zu „Gesprächen“ zusammengefasst.
Das Bundeskriminalamt erlangte durch Europol Erkenntnisse über schwere Straftaten von deutschen „EncroChat-Nutzern“ und gab diese an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. weiter. Diese leitete daraufhin ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt ein. Es erging sodann eine sogenannte Europäische Ermittlungsanordnung. Hierin verlangte die Staatsanwaltschaft von den französischen Behörden die Übermittlung der erlangten Daten zur Verwendung in deutschen Strafverfahren.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. leitete die so erlangten Daten an die jeweils zuständigen Regionalstaatsanwaltschaften weiter, die in mehreren Fällen Anklage erhoben.
Die Verwendung der Daten aus Frankreich führte dazu, dass sich mehrere deutsche Gerichte mit der Frage ihrer Verwertbarkeit als Beweismittel beschäftigten. Die Gerichte kamen dabei zu unterschiedlichen Ergebnissen. Nun hat sich der BGH dieser Frage ausführlich gestellt und die Verwertung der „EncroChat“-Daten jedenfalls zur Ermittlung und Verurteilung schwerer Straftaten gebilligt (Beschluss vom 02.03.2022, Az. 5 StR 457/21).
Bewertung des Datenzugriffs am Maßstab des Völker- und Rechtshilferechts
Der BGH hat zunächst erläutert, dass sich die Frage der Verwertbarkeit der in Frankreich gewonnen Daten ausschließlich nach deutschem Recht bestimme. Hiervon zu unterscheiden sei die Prüfung der Rechtmäßigkeit der ausländischen Ermittlungsmaßnahme, die im Gegensatz dazu am französischen Recht zu messen sei.
Ob die Ermittlungsmaßnahme mit französischem Strafprozessrecht in Einklang stand, sei aber nicht von deutschen Gerichten zu prüfen. Insbesondere für den Rechtshilfeverkehr innerhalb der EU gelte der Grundsatz der gegenseitigen Anerkennung gerichtlicher Entscheidungen. Das daraus geschaffene gegenseitige Vertrauen und die Vermutung, dass andere Mitgliedsstaaten das Unionsrecht einhalten, solle nicht durch eine Bewertung des um Rechtshilfe ersuchenden Staates geschwächt werden.
Der BGH nahm dementsprechend lediglich eine Prüfung der Beweismittelgewinnung am Maßstab des Völkerrechts und der Grundsäte des Rechtshilferechts vor. Zuallererst hat das Gericht klargestellt, dass aufgrund der Freiwilligkeit der Datenherausgabe kein Konflikt mit der staatlichen Souveränität Frankreichs gegeben sei.
Ein Verstoß gegen wesentliche rechtsstaatliche Grundsätze (ordre public) durch die französischen Behörden konnte der BGH darüber hinaus nicht erkennen. Insbesondere die Einleitung der französischen Ermittlungsverfahren sei unbedenklich gewesen. Die Kryptohandys von „EncroChat“ seien zur ausschließlichen oder nahezu ausschließlichen Nutzung für kriminelle Aktivitäten bestimmt gewesen und ausgesprochen kostspielig. Es habe somit letztlich gegen jede Person, die ein solches Kryptohandy erworben hat, ein konkreter Verdachtsmomente bestanden. Die Erhebung der Daten aller Nutzer des Dienstes sei aus diesem Grund keine rechtsstaatswidrige anlasslose Massenüberwachung gewesen.
Ebenso lehnte der BGH ein Beweisverwertungsverbot wegen eines Verstoßes gegen rechtshilfespezifische Bestimmungen ab. Frankreich sei zwar verpflichtet gewesen, Deutschland möglichst zeitnah über die im Bundesgebiet stattfindenden Datenzugriffe zu unterrichten, jedoch schütze diese Pflicht zuvorderst die Souveränität des betroffenen Staates. Lediglich zweitrangig sei der Grundrechtsschutz der betroffenen Person, der sich zudem nur auf die Beweisverwendung im Ausland auswirke. Ein solcher Verstoß müsste zudem hinter dem Interesse der Wahrheitsfindung zurücktreten. Es ginge bei dem Verfahren nämlich um die Aufklärung schwerster Straftaten, die ohne diese Beweismittel nicht möglich gewesen wäre.
Schließlich seien auch keine durchgreifenden Rechtsfehler der Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. bei der Prüfung und dem Erlass der Europäischen Ermittlungsanordnung ersichtlich.
Vereinbarkeit mit nationalem Prozess- und Verfassungsrecht
Der BGH prüfte auch, ob die Verwertung der „EncroChat“-Daten mit dem deutschen Prozess- und Verfassungsrecht in Einklang stehe. Die Verwertung der Daten sei zulässig, wenn sie zur Verfolgung von auch im Einzelfall schweren Straftaten im Sinne von § 100b Abs. 2 StPO verwendet werden, wenn die Erforschung des Sachverhalts auf andere Weise wesentlich erschwert oder aussichtslos wäre und der Kernbereich privater Lebensgestaltung nicht berührt ist. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt.
Die Kommunikationsinhalte seien zunächst nicht dem absolut geschützten Kernbereich privater Lebensgestaltung zuzuordnen, da es sich um Kommunikation über die Planung und Durchführung von Straftaten gehandelt habe. Derartige Gespräche seien nicht Teil der Intimsphäre und somit nicht der staatlichen Kenntnisnahme entzogen.
Es sei zudem für die Verwertbarkeit ausländischer Beweise nicht entscheidend, ob die durchgeführte Ermittlungsmaßnahme deutschem Recht entsprochen hätte. Nationale Unterschiede auf Ebene der Ermittlungsbefugnisse seien jedoch bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit der Beweisverwertung zu berücksichtigen. § 100e Abs. 6 StPO sei danach nicht direkt anwendbar. Jedoch käme ein Rückgriff auf die in den dortigen Verwertungsbeschränkungen verankerten Wertungen in Frage. Die Daten dürften danach nur zur Aufklärung besonders schwerer Straftaten verwendet werden. Der BGH stellt hierzu fest, dass es für die Bewertung der Verhältnismäßigkeit nicht erforderlich sei, die Verdachtslage zum Zeitpunkt der Anordnung der Datenerhebung zu rekonstruieren. Sondern der Erkenntnisstand im Zeitpunkt der Verwertung entscheidend sei.
Nach diesem Maßstab sei die Verwertung der „EncroChat“-Daten zulässig gewesen, da sie der Aufklärung von Verbrechen wie dem Drogenhandel in nicht geringem Maße dienten und ohne die Verwendung der „EncroChat“-Daten eine Aufklärung des Sachverhalts nicht möglich gewesen wäre.
Abschließend wandte sich der BGH noch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) zu. In der Überwachung liege kein Verstoß gegen Art. 8 oder 10 EMRK oder sonstige Verfahrensgarantien, sodass sich hieraus kein Verwertungsverbot ergebe.
Bewertung und Ausblick
Der BGH kommt zu einem umfangreich begründeten, aber gleichwohl nicht überzeugenden Ergebnis. Die Ermittlungsmaßnahmen der französischen Behörden wiesen eine außerordentliche Breite und Tiefe auf. Die Anzahl der betroffenen Endgeräte war immens (etwa 32.000 Geräte) und der Eingriff in das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität genutzter IT-Systeme war tiefgehend. Es erscheint darum zweifelhaft, ob eine solche Maßnahme auf einen nicht individualisierten Generalverdacht gegen die Nutzer von „EncroChat“-Phones gestützt werden kann. Die Grenze zwischen dieser Maßnahme und einer verdachtslosen Massenüberwachung ist jedenfalls äußerst schmal.
Zu Recht hat der BGH davon abgesehen, die Ermittlungsmaßnahmen der französischen Behörden am Maßstab des deutschen Rechts zu prüfen. Nichtsdestotrotz hätte das Gericht der eklatanten Eingriffsschwere der Datenerhebung bei der Entscheidung über die Verwertbarkeit der so erlangten Beweise ein größeres Gewicht zuerkennen müssen. Dies wäre auch unter einem weiteren Gesichtspunkt geboten gewesen. Die Rechtsprechung des BGH öffnet dem „Forum Shopping“ Tür und Tor. Durch die Absenkung der Rechtfertigungsschwelle für den Zugriff auf ausländische Ermittlungserkenntnisse erhöht sich nämlich das Risiko der bewussten Umgehung strengerer inländischer Ermittlungsregeln. In einem solchen Fall liegt es bei dem entscheidenden Gericht, dem Grundrechtsschutz auf Ebene der Beweisverwertung hinreichend Rechnung zu tragen und die Umgehung grundrechtsschützender Vorschriften so zu kompensieren. Ob der BGH in einem erkennbaren Umgehungsfall den Grundrechtsschutz gegebenenfalls stärker betonen würde, lässt sich dem Urteil indes nicht entnehmen.
Die Entscheidung des BGH ist jedoch noch nicht final. Beim Bundesverfassungsgericht ist nämlich bereits eine Verfassungsbeschwerde gegen den ersten Beschluss des BGH zu „EncroChat“ erhoben worden (Az. 2 BvR 558/22). Der Beschwerdeführer macht hier insbesondere geltend, dass sein Recht auf den gesetzlichen Richter und auf Schutz seiner privaten Daten verletzt worden sei. Es ist zudem zu erwarten, dass auch gegen die zweite Entscheidung des BGH zeitnah Verfassungsbeschwerde erhoben werden wird. Die hierauf ergehende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts hat dabei das Potential zentrale Aspekte des deutschen Beweis- und Rechtshilferechts neu auszutarieren.