Entscheidung des BVerfG: 6 % Steuerzins sind verfassungswidrig
Die Vorschriften zu den Nachzahlungszinsen und Erstattungszinsen auf Steuerforderungen (§§ 233 a, 238 AO) in Bezug auf die Höhe der Zinsen von 6 % pro Jahr sind verfassungswidrig. Das hat das Bundesverfassungsgericht in einem am 18.8.2021 veröffentlichten Beschluss entschieden (BVerfG vom 8.7.2021, 1 BvR 2237/14 u. 1 BvR 2422/17). Aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsphase sei die Höhe der Zinsen seit 2014 „evident realitätsfern“. Eine Änderung soll jedoch erst für Zinsen ab 2019 eintreten. Die Entscheidung hat finanzielle Folgen für fast jeden Steuerpflichtigen. Besonderheiten gelten für Hinterziehungszinsen im Falle einer Steuerhinterziehung.
Hintergrund zum Steuerzins
In der Entscheidung ging es um den sogenannten „Steuerzins“, den Zinssatz nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 S. 1 AO, der auf Steuernachzahlungen und -erstattungen erhoben wird. Bereits 1961 wurde er pauschal auf 0,5 % monatlich, also 6 % im Jahr festgelegt. Seitdem ist er nicht mehr angepasst worden.
Diese Steuerzinsen sollen, anders als der Säumniszuschlag (eine zusätzliche Abgabe im Fall verspäteter Steuerzahlung), keine Sanktion darstellen. Sie sollen vielmehr einen möglichst gerechten Ausgleich der Belastung aller Steuerzahler garantieren. Mit den Zinsen soll der wirtschaftliche Vorteil – bzw. bei Erstattungszinsen der Nachteil – ausgeglichen werden, welcher der Steuerpflichtige, dessen Steuern später festgesetzt werden, gegenüber dem Steuerpflichtigen mit einer früheren Steuerfestsetzung hat. In einer Zeit, als Negativzinsen außerhalb der Vorstellung lagen, ging der Gesetzgeber davon aus, dass der Steuerpflichtige aus den noch nicht fälligen Beträgen noch Erträge erzielen konnte. Dies sollte mit dem Steuerzins ausgeglichen werden.
Anwendung findet der Steuerzins auf den Zeitraum zwischen Entstehung der Steuer und ihrer Festsetzung. Der Zinslauf beginnt allerdings erst nach Ablauf einer zinsfreien Karenzzeit von 15 Monaten, also z.B. für die Einkommensteuer 2019 erst am 1.4.2021. Bei Steuernachzahlungen profitiert davon der Fiskus, bei Erstattungen der Steuerzahler.
Was besagt die Entscheidung des BVerfG zum Steuerzins genau?
Das Bundesverfassungsgericht stellt in seinem Beschluss klar, dass der Gesetzgeber grundsätzlich berechtigt ist, Zinsen auf Steuernachzahlungen zu erheben und sich dabei auch eines starren Zinssatzes bedienen kann. Die Höhe der Marktzinsen hat sich aber seit 2014 so weit von dem Zinssatz von 6 % entfernt, dass letzterer nicht mehr verfassungskonform ist.
Das Bundesverfassungsgericht hat allerdings die bisherige Regelung für bis zum 31.12.2018 entstandene Zinsen für weiter anwendbar erklärt. Eine Änderung tritt mithin nur für Zinszeiträume ab 2019 ein. Das BVerfG begründet dies mit erheblichen „haushaltswirtschaftlichen Unsicherheiten“, wenn die Regelung rückwirkend ab 2014 angewendet würde. Ab 2019 hätte der Gesetzgeber jedoch mit einer möglichen Zinsrückzahlung rechnen können, weil es bereits in 2018 erste Entscheidungen des Bundesfinanzhofs mit verfassungsrechtlichen Zweifeln an der Zinshöhe gab (BFH vom 25.4.2018 – IX B 21/18).
Auch ab 2019 werden die Zinsen jedoch nicht vollständig entfallen. Dem Gesetzgeber setzt das BVerfG eine Frist bis zum 31.7.2022, um eine verfassungsgemäße Rechtslage herzustellen, sprich ab 2019 einen niedrigeren Zinssatz zu bestimmen, welcher noch verfassungskonform ist.
Folgen für die Praxis
Für Zinszahlungszeiträume bis 2018 bleibt es bei den bisherigen Zinsfestsetzungen.
Hatte der Steuerpflichtige im Hinblick auf die anhängigen Verfassungsbeschwerden allerdings hiergegen Einspruch eingelegt, hatten die Finanzämter für Zinsen ab 1.4.2012 die Aussetzung der Vollziehung gewährt (BMF v. 14.12.2018, DStR 2018 S. 2702). Das heißt, die Zinsen mussten zunächst nicht gezahlt werden. Jetzt wird die Aussetzung der Vollziehung für den Zeitraum bis 2018 aufgehoben und die Zinsen werden zu zahlen sein.
Für Zinszeiträume ab 2019 bleiben bereits bestandskräftige, nicht durch Einspruch angefochtene Steuerfestsetzungen trotz der Nichtigkeit der Zinsnorm bestehen. Soweit die Zinsen allerdings noch nicht bezahlt sind, können sie nicht mehr vollstreckt werden.
Die Finanzverwaltung hatte jedoch bereits am 2.5.2019 verfügt (BMF-Schreiben v. 2.5.2019, DStR 2019 S. 996), dass alle danach ergehenden Steuerbescheide bezüglich der Zinsen vorläufig erlassen werden. Bei diesen Steuerbescheiden wird es mithin zu einer Senkung des Zinssatzes auf den noch nicht feststehenden Zinssatz der gesetzlichen Neuregelung nach einer solchen kommen. Bereits gezahlte höhere Zinsen ab 2019 werden dann erstattet.
Bereits ausgesetzte Zinsen ab 2019 bleiben ausgesetzt; sie müssen bis zur gesetzlichen Neuregelung nicht gezahlt werden.
Künftige Zinsfestsetzungen für den Zeitraum ab 2019 werden nach § 165 I S. 2 Nr. 2 AO vorläufig erfolgen. Dies ermöglicht auch eine Aussetzung der Vollziehung von Amts wegen ohne Einspruch oder Antrag des Steuerpflichtigen (§ 165 I S. 4 AO). Zu einer solchen Aussetzung ist die Finanzbehörde aufgrund der Unvereinbarkeitserklärung des Verfassungsgerichts verpflichtet (BVerfG v. 29.3.2017 – 2 BvL 6/11 Rz. 163). Mithin werden auch insoweit (herabgesetzte) Zinsen erst nach einer gesetzlichen Neuregelung zu zahlen sein.
Vor allem für Unternehmen, bei welchen es häufiger zu höheren Steuernachzahlungen oder Erstattungen kommt, dürfte die Neuregelung erhebliche finanzielle Folgen haben. Denn nach einer gesetzlichen Neuregelung der Zinsen wird rückwirkend für alle noch nicht bestandskräftigen Steuerfestsetzungen ab Januar 2019 gelten: Wer zu viele Zinsen gezahlt hat, bekommt diese zwar erstattet. Wer aber bei der Steuerrückzahlung zu viele Zinsen bekommen hat, muss diese dann zurückerstatten.
Was gilt für Hinterziehungszinsen?
Hinterziehungszinsen werden festgesetzt, wenn Steuern hinterzogen worden sind. Auch sie betragen nach dem Gesetz 6 % pro Jahr.
In dem aktuellen Beschluss hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt (Rz. 242 f.), dass sich die Entscheidung nicht auf Hinterziehungszinsen erstreckt. Diese bedürften ebenso wie die Aussetzungszinsen und Stundungszinsen einer eigenen verfassungsrechtlichen Würdigung.
Den Unterschied zum Steuerzins sieht das Verfassungsgericht darin, dass die Verwirklichung der Zinstatbestände bei den Hinterziehungszinsen zumindest bewusst in Kauf genommen werde. Eine Stundung oder Aussetzung der Vollziehung wird freiwillig statt einer fristgerechten Zahlung beantragt; eine Steuerhinterziehung wird zumindest bedingt vorsätzlich begangen. Damit nehme der Täter auch die gesetzlichen Hinterziehungszinsen in Kauf.
Die Hinterziehungszinsen dürfen somit weiter in Höhe von 6 % je Jahr festgesetzt werden. Mit einer Aussetzung der Vollziehung ist nicht (mehr) zu rechnen.
Dies erhöht die Bedeutung der Hinterziehungszinsen deutlich. Nach § 235 IV AO sind Zinsen im Sinne des § 233 a AO, welche für denselben Zeitraum festgesetzt werden, auf die Hinterziehungszinsen anzurechnen. Da bisher beide Zinsen in Höhe von 6 % pro Jahr festgesetzt wurden, führte dies dazu, dass es häufig gar nicht zu einer Festsetzung von Hinterziehungszinsen kam. Diese wurden lediglich für die 15-monatige Karenzzeit des § 233 a AO festgesetzt, wenn die Steuerhinterziehung vorher vollendet war. Dies war häufig nicht oder nur für einige Monate der Fall.
Würden jetzt aber die Zinsen nach § 233 a AO durch das zu erwartende Gesetz z.B. auf 3 % herabgesetzt und bleiben die Hinterziehungszinsen bei 6 %, so würden künftig neben den Zinsen nach § 233 a AO in Höhe von 3 % weitere Hinterziehungszinsen in Höhe von 3 % daneben festgesetzt – und dies für die gesamte Zinslaufzeit.
Damit wird die Abwehr von Hinterziehungszinsen ein wichtigerer Teil der Verteidigung in Steuerstrafsachen werden.
Zu berücksichtigen ist dabei, dass das Finanzamt die Feststellungslast für eine vorsätzliche Steuerhinterziehung trägt, wenn die Hinterziehungszinsen streitig sind. Selbst eine strafrechtliche Verurteilung wegen Steuerhinterziehung ist insoweit nicht für das Finanzgericht bezüglich der Hinterziehungszinsen bindend. Erst Recht kann bei einer Einstellung nach § 153 a StPO bezüglich der Hinterziehungszinsen gesondert darüber gestritten werden, ob deren Voraussetzungen vorliegen. Dies dürfte künftig deutlich häufiger der Fall sein als bisher.
* Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird auf die gleichzeitige Verwendung der Formen männlich, weiblich oder divers verzichtet. Sämtliche Bezeichnungen gelten gleichermaßen für alle Geschlechter.