Die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) – ein „Game Changer“ auch für die Strafverteidigung?

Seit drei Jahren agiert die Europäische Staatsanwaltschaft (EUStA) gegen Wirtschaftskriminalität in nunmehr 24 EU-Mitgliedsstaaten. Die Palette der verfolgten Straftaten reicht von Steuerhinterziehung über Betrug bis hin zu Korruption. Zahlen und Erfolgsmeldungen klingen beeindruckend: Knapp 2000 aktive Ermittlungsverfahren und sichergestellte Vermögenswerte im Wert von 1,5 Milliarden Euro weist der Jahresbericht 2023 aus. Grenzüberschreitende Operationen mit filmreifen Codenamen („Action Day Huracan“; „Investigation Goliath“) münden auch in Deutschland vermehrt in Anklagen von Beschuldigten. Der Aktionsradius der EUStA endet dabei nicht an den EU-Außengrenzen, wie jüngst z.B. eine Festnahme in Kenia demonstriert. Selbstbewusst formulieren ihre Vertreter daher den Anspruch, ein „Game Changer im Kampf gegen Betrug und Korruption zu sein.“ Welche Auswirkungen dieser neue „Player“ auf die Arbeit der Strafverteidigung hat, lesen Sie in diesem Beitrag.

EUStA-Verfahren – mehr als nationales Straf- und Strafprozessrecht

Rechtliche Grundlage der EUStA ist die EU-Verordnung 2017/1939 (EUStA-VO). Sie regelt insbesondere Aufbau und Zuständigkeit, den Ablauf des Ermittlungsverfahrens, Arten der Verfahrensbeendigung, den Rechtsschutz sowie Fragen des Datenschutzes. Ergänzt werden die Vorschriften durch zahlreiche Verweise auf das nationale Recht. Dieses Zusammenspiel fordert von der Verteidigung zusätzliche Expertise in europarechtlichen Fragestellungen, etwa im Hinblick auf Klageverfahren vor dem EuGH oder zu den Abläufen bei grenzüberschreitenden Ermittlungen. Verfahren mit Beteiligung der EUStA weisen im Vergleich zu rein nationalen Sachverhalten zudem zahlreiche Besonderheiten auf, die neben fachlicher Kompetenz auch hervorragende kommunikative Fähigkeiten und eine enge Vernetzung mit europäischen Kolleginnen und Kollegen erfordern. Zudem sind viele Rechtsfragen der Spezialmaterie bislang noch nicht geklärt und machen eine strategisch vorausschauende Bearbeitung des Mandats erforderlich. Eine Auswahl praxisrelevanter Problemstellungen soll hier vorgestellt werden.

Die hybride Struktur der EUStA – eine kommunikative Herausforderung für die Strafverteidigung

Erstes Alleinstellungsmerkmal ist die hybride Struktur der EUStA. Als supranationale Behörde verfügt sie über eine Leitungsebene in Luxemburg und dezentral organisierte Delegierte Europäische Staatsanwälten (DEStA) in den Mitgliedsstaaten. Die Letztentscheidungskompetenz in Kernfragen – z.B. bzgl. der Anklageerhebung oder Verfahrenseinstellung – liegt bei Gremien der Leitungsebene (sog. Ständige Kammern). Sachbearbeiter und Ansprechpartner im jeweiligen Verfahren ist hingegen der im Mitgliedsstaat ansässige DEStA. Diese Aufgabenverteilung erschwert einen vertrauensvollen und lösungsorientierten Austausch zwischen Strafverteidigung und Ermittlungsbehörde. Denn Gespräche mit dem DEStA sind immer mit der Unsicherheit behaftet, dass die Ständige Kammer als „Black Box“ anders entscheidet. Die hohe Verteidigungskunst liegt deshalb darin, die eigene Argumentation so zuzuschneiden, dass sie nicht nur den DEStA zu einem entsprechenden Entscheidungsvorschlag bewegt, sondern auch die weniger spezialisierten und informierten Kammermitglieder überzeugt.

Die Zuständigkeit der EUStA – ein schwer zu durchschauendes Regelungslabyrinth

Die Zuständigkeit der supranationalen EUStA ist komplex und sieht ein Zusammenspiel aus nationalen und europäischen Regelungen vor. Sie ist nicht als ausschließliche Zuständigkeit ausgestaltet, genießt aber gem. Art. 25 Abs. 1 S. 2 EUStA-VO Priorität. Das bedeutet, dass (parallele) nationale Verfahren gesperrt sind, wenn die EUStA ihre Zuständigkeit ausübt. Im Einzelfall kann die Frage, ob und in welchem Umfang die EUStA ihre Zuständigkeit ausgeübt hat, schwierig sein. Hinzu kommen Unklarheiten im Hinblick auf die sachliche, zeitliche, territoriale und personelle Zuständigkeit der EUStA. Grundvoraussetzung ist dabei immer, dass die verfolgte Tat nach dem Recht des betroffenen Mitgliedsstaats strafbar ist. Denn die EUStA-VO selbst enthält keine eigenen Straftatbestände, deren Verwirklichung ermittelt und oder angeklagt werden könnte. In Deutschland führt dies z.B. dazu, dass eine strafrechtliche Ahndung von juristischen Personen ausscheidet, weil die Verabschiedung eines Verbandssanktionengesetzes bislang gescheitert ist.

Anders als nationale Staatsanwaltschaften ermittelt die EUStA jedoch nicht bei allen Arten von Straftaten, sondern darf gem. Art. 22 Abs. 1 EUStA-VO grundsätzlich nur Straftaten zum Nachteil der finanziellen Interessen der EU verfolgen (sog. PIF-Delikte in Umsetzung der RL (EU) 2017/ 1371). Erfasst sind insbesondere Subventionsbetrug, Umsatzsteuerhinterziehungen über 10 Mio. Euro und Untreue zum Nachteil des EU-Haushalts (§§ 264, 266 StGB, § 370 AO). Weiterhin gehören Bestechung und Bestechlichkeit von EU-Bediensteten (§§ 331 ff. StGB), Geldwäsche (§ 261 StGB) und die Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) unter bestimmten Umständen zum Aufgabengebiet der EUStA. Bei Kleinkriminalität (Schaden < 10.000 Euro) soll die EUStA ihre Zuständigkeit nicht ausüben, sodass Raum für eine Verfolgung durch nationale Strafverfolgungsbehörden bleibt. Diese Ausnahme wird leider durch vereinzelte Rückausnahmen verkompliziert. Neben den PIF-Delikten darf die EUStA unter bestimmten Voraussetzungen auch solche Delikte verfolgen, die mit PIF-Delikten einen einheitlichen Lebenssachverhalt bilden. Die Prüfung der rechtlichen und tatsächlichen Voraussetzungen für eine solche Einheit birgt erhebliche Unsicherheiten und durchaus auch Konfliktpotenzial mit nationalen Strafverfolgungsbehörden.

Neben dieser inhaltlichen Begrenzung muss die Straftat gem. Art 23 EUStA-VO zudem entweder in einem oder mehreren der teilnehmenden Mitgliedsstaaten, von einem Staatsangehörigen dieser Mitgliedsstaaten oder von einem EU-Amtsträger begangen worden sein. Gravierende Probleme für die Beschuldigten werfen dabei Sachverhalte auf, die einen Bezug zu mehreren Mitgliedsstaaten aufweisen. Zwar soll in diesem Fall das Verfahren gem. Art. 26 Abs. 4 S. 1 EUStA-VO in dem Mitgliedsstaat geführt werden, in dem der „Großteil der Straftaten“ begangen worden ist. Diese wenig greifbare quantitative Betrachtung lässt erheblichen Interpretationsspielraum und damit eine nicht unerhebliche Entscheidungsfreiheit. Diese ist umso größer als mit „gebührender Begründung“ auch von dieser Grundvorgabe abgewichen werden kann. Dies ermöglicht „forum shopping“, die Auswahl einer für die Verfolgung der etwaigen Straftaten günstigen Verfahrensordnung. Die Möglichkeit, die getroffene Wahl bis zur Anklageerhebung zu ändern, trägt ihrerseits weiter zur misslichen Lage der Betroffenen bei. Die Möglichkeit des Jurisdiktionswechsels ist bei jedem Handeln der Verteidigung mitzudenken. Was in der einen Jurisdiktion entlastend wirkt, muss dies nicht auch in jeder anderen möglichen Jurisdiktion tun. Für die Verteidigung agiert die EUStA also im wahrsten Sinne des Wortes als „Game Changer“. Gefragt sind Erfahrung und Sorgfalt im Umgang mit der neuen Situation.

Ermittlungsverfahren – Agieren in fremden Sprachen und Rechtsordnungen

Liegt ein Anfangsverdacht (§ 152 Abs. 2 StPO) bzgl. eines oder mehrerer PIF-Delikte vor und ist der in Deutschland ansässige DEStA örtlich zuständig, leitet er ein Ermittlungsverfahren ein. Er unterliegt dabei dem Legalitätsprinzip, muss bei entsprechenden Anhaltspunkten also tätig werden. Ermitteln zu diesem Zeitpunkt bereits nationale Behörden, kann die EUStA das Verfahren gem. Art. 27 EUStA-VO (sog. Evokationsrecht) an sich ziehen. Die EUStA-VO selbst regelt die Ermittlungsbefugnisse des DEStA nur vereinzelt. Sie enthält lediglich einen Mindestkatalog an Maßnahmen, die dem DEStA nach den Vorschriften des nationalen Rechts zur Verfügung stehen müssen. Die jeweilige Ermittlungsmaßname (bspw. Durchsuchung) wird dann entsprechend der nationalen Verfahrensvorschriften entweder vom DEStA selbst oder von angewiesenen nationalen Behörden (Art. 28 EUStA-VO) durchgeführt.

Eine besondere Herausforderung stellen hierbei grenzüberschreitende Ermittlungen (Art. 31 EUStA-VO) dar. Ein zentrales Anliegen der EUStA-VO war eine Vereinfachung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten. Nach schwierigen Verhandlungen wurde letztlich ein Kompromiss erzielt, der jedoch wesentliche Rechtsfragen offenlässt (näher Pfister jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1). Grundsätzlich soll der ermittelnde DEStA seine Kolleginnen und Kollegen in anderen Mitgliedsstaaten anweisen können, für ihn dort Ermittlungen durchzuführen. Welches mitgliedsstaatliche Recht für diese Maßnahme maßgeblich ist und welche Gerichte ggf. erforderliche Genehmigungen erteilen müssen, bleibt teils unklar. Der EuGH konnte in seiner ersten Entscheidung (Rs. C-281/22) hier nur bedingt für Klarheit sorgen und hat zudem die Rechtsschutzmöglichkeiten stark eingeschränkt, indem er den Beschuldigten auf Rechtsschutz im ermittelnden Staat verwiesen hatte, währen die Maßnahme jedoch im anderen Heimatstaat des Betroffenen erfolgte. Die Verteidigung ist daher gezwungen die Rechte des Beschuldigten ggf. in einer fremden Rechtsordnung und Sprache zu schützen. Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit von Strafverteidigern wird daher auch insofern immer wichtiger.

Rechtsschutz der EUStA-VO – ein Flickenteppich aus nationalen und europäischen Rechtsbehelfen

Aufgrund ihrer hybriden Struktur hat sich der europäische Gesetzgeber für ein „Misch“-System beim Rechtsschutz gegen EUStA-Maßnahmen entschieden. Im Ausgangspunkt sollen mitgliedsstaatliche Gerichte für die Kontrolle der EUStA mithilfe der im nationalen Recht vorgesehenen Rechtsbehelfe sorgen. In Deutschland erfüllt diesen Zweck primär § 98 Abs. 2 S. 2 StPO (analog) für die Überprüfung strafprozessualer Zwangsmaßnahmen. Die vielfach kritisierten Unzulänglichkeiten des deutschen Rechts im Hinblick auf den Rechtsschutz gegen Zwangsmaßnahmen werden damit auf EUStA-Verfahren übertragen. Da die Auslegung europäischer Rechtsakte – insbesondere der EUStA-VO – allerdings weiterhin dem EuGH obliegt, wurde der europäische Rechtsbehelf des Vorabentscheidungsverfahrens (Art. 267 AEUV) in dieses Rechtsschutzkonzept integriert. Steht also die Vereinbarkeit einer EUStA-Maßnahme mit EU-Recht oder die Auslegung letzteres in Frage, müssen nationale Gerichte die Frage an den EuGH vorlegen.

Dieser Umstand ist nicht nur wegen der damit verbunden Verlängerung der Verfahrensdauer misslich, sondern kann vom Betroffenen auch nicht selbst per Antrag oder Rüge zwingend herbeigeführt werden. Ihm bleibt nur die Einwirkung auf das nationale Gericht oder der Umweg über die Verfassungsbeschwerde, um eine Klärung zugrunde liegender europarechtlicher Fragen herbeizuführen. Erschwert wird der Rechtsschutz des Betroffenen zuletzt dadurch, dass der EuGH weder institutionell noch personell über besondere Expertise im Strafverfahren verfügt, gleichzeitig aber die Effektivität der Strafverfolgung als zu maximierende Zielgröße definiert hat (ähnliche Kritik: Wimmer/Wuschko ZWH 2024, 194, 195). Diese Kombination verlangt der Verteidigung ab, die eigene Rechtsauffassung und die Besonderheiten des Strafprozesses so aufzubereiten, dass auch die Richterinnen und Richter des EuGH überzeugt werden, die mit dieser Materie ggf. bislang weniger in Berührung gekommen sind. Gleichzeitig benötigen Verteidigerinnen und Verteidiger ihrerseits entsprechende Expertise in europäischen Klageverfahren.

Abschluss der Ermittlungen und Hauptverfahren – bekanntes Terrain mit Tücken

Sind die Ermittlungen des DEStA abgeschlossen, legt er der Ständigen Kammer gem. Art. 35 EUStA-VO einen Vorschlag für das weitere Vorgehen vor. In Betracht kommen ein Verweis an nationale Behörden (Art. 34), die Anklage vor einem mitgliedsstaatlichen Gericht (Art. 36), die Verfahrenseinstellung (Art. 39) oder die Durchführung eines vereinfachten Verfahrens (Art. 40). Der oben skizzierten Gefahr des „forum shoppings“ ist auch hier durch proaktive und konstruktive Kommunikation mit dem DEStA zu begegnen. Kommt eine Verfahrenseinstellung grundsätzlich in Betracht, gilt es zahlreiche rechtliche Unsicherheiten und Fallstricke zu vermeiden (näher Pfister wistra 2024, 358 ff.). Eine Spezialisierung auf EUStA-Verfahren und Erfahrung sind hier unerlässlich, um die durch die EUStA-VO eröffneten Möglichkeiten für Opportunitätseinstellungen zugunsten des Beschuldigten ausschöpfen zu können.

Entscheidet sich die Ständige Kammer auf Vorschlag des DEStA für eine Anklageerhebung, reicht letzterer beim zuständigen Gericht seines Mitgliedsstaats die Anklageschrift ein. Verfahren sowie Rechte und Pflichten der Beteiligten regelt von da an das nationale Verfahrensrecht. Besondere Probleme können sich im Fall der Anklageerhebung allerdings dadurch ergeben, dass Ermittlungsergebnisse auf ausländischen Beweiserhebungen beruhen können, die nach deutschem Recht einem Verwertungsverbot unterliegen (näher Duesberg NJW 2021, 1207, 1211). Hinzu kommt die Schwierigkeit des konstruktiven Austauschs mit dem DEStA, der grundsätzlich auf die Zustimmung der Ständigen Kammer zu seinen Entscheidungen (bspw. für eine Einstellung nach §§ 153, 153a, 154, 154a StPO) angewiesen ist. Nur, wenn eine Zustimmung innerhalb der Fristen des nationalen Rechts nicht möglich ist, soll der DEStA selbständig entscheiden dürfen (Herrnfeld, EPPO, 2021, Art. 36 Rn. 25; Niedernhuber, Hdb. EuStA, 2022, § 10 Rn. 30 f.). Das teilweise anzutreffende Verständnis, im gerichtlichen Verfahren sei nie die Zustimmung der Ständigen Kammer erforderlich, lässt sich mit dem Wortlaut des Art. 36 Abs. 7 S. 4 EUStA-VO nur schwer vereinbaren. Dort wird auf das gesamte Verfahren nach Art. 36 Abs. 7 S. 1-3 EUStA-VO verwiesen, was – mit Ausnahme der Fristproblematik – explizit eine Entscheidung der Ständigen Kammer vorsieht. Die anwaltliche Vorsicht dürfte es daher gebieten, von einem Zustimmungserfordernis auszugehen.

Zuletzt muss die Verteidigung stets die Reichweite der Rechtskraft ergangener Entscheidungen und die Möglichkeit einer Verbindung von Verfahren im Auge behalten, um die Verteidigungsstrategie entsprechend zu entwerfen. Andernfalls drohen dem Mandanten unnötige Belastungen durch andere Ermittlungen nationaler und europäischer Behörden wie OLAF und EUROPOL.

Fazit

Ob die EUStA ein „Game Changer“ im Kampf gegen Betrug und Korruption ist, müssen zukünftige Ermittlungserfolge zeigen. Jedenfalls für die Strafverteidigung verdient sie die Bezeichnung schon jetzt, weil sie zahlreiche Änderungen und Besonderheiten im Verfahrensablauf mit sich bringt. Aufgrund des Zusammenspiels aus nationalen und europäischen Regelungen sowie vieler ungeklärter Rechtsfragen, präsentieren sich EUStA-Verfahren als Spezialmaterie, die eine fachliche Spezialisierung auf Seiten der Verteidigung erfordert. Neben fachlicher Expertise im nationalen Strafrecht und im Europarecht sind kommunikative Fähigkeiten, eine gute Vernetzung in anderen Jurisdiktionen und Erfahrung gefordert.

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