Erste Entscheidung des EuGH zur Europäischen Staatsanwaltschaft und Reichweite der gerichtlichen Überprüfung von EPPO-Ermittlungsmaßnahmen

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in seinem Urteil vom 21. Dezember 2023 (Az. C-281/22) erstmals über die Verordnung  (VO (EU) 2017/1939) zur Errichtung der Europäischen Staatsanwaltschaft (EuStA) / des European Public Prosecutor`s Office (EPPO) entschieden. Das Urteil wurde mit Spannung erwartet, weil die aufgeworfenen Fragen hohe Praxisrelevanz für Strafverteidiger und die Arbeit des EPPO haben. Von besonderem Interesse ist die Entscheidung aber auch deshalb, weil in den nächsten Jahren mit einer steigenden Zahl an EPPO-Strafverfahren zu rechnen ist und den EuGH weitere Auslegungsfragen nationaler Gerichte erreichen werden (aktuell z.B. Az. C-292/23). Wie das Gericht die Verordnung in seiner ersten Entscheidung deshalb bspw. im Hinblick auf Beschuldigtenrechte interpretiert, hat mithin richtungsweisenden Charakter.

Gegenstand der Entscheidung waren grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen des EPPO (Art. 31 der VO). Bei diesen ordnet der mit den Ermittlungen betraute Delegierte Europäische Staatsanwalt in seinem Mitgliedsstaat eine Maßnahme (bspw. eine Durchsuchung) an, die dann in einem anderen (ausführenden) Mitgliedsstaat vollstreckt wird. Das aufgeworfene Kernproblem liegt darin, ob die Gerichte des ausführenden Mitgliedsstaats die Maßnahme umfassend, d.h. auch in Bezug auf materielle Aspekte wie Tatverdacht oder Verhältnismäßigkeit überprüfen dürfen, wenn die Maßnahme nach dem Recht dieses Mitgliedsstaats einer richterlichen Genehmigung bedarf.

Der EuGH verneint diese Frage und beschränkt den Prüfungsumfang der Gerichte im ausführenden Mitgliedsstaat auf Vollstreckungsaspekte, sodass der Betroffene dort nur sehr eingeschränkte Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die jeweilige Maßnahme hat. Um diese Konsequenz teilweise abzumildern, fordert der EuGH stattdessen, dass bei schwerwiegenden Eingriffen in die Rechte des Betroffenen eine vorherige gerichtliche Kontrolle im anordnenden Mitgliedsstaat erfolgen muss.

Hintergrund und Verfahrensgang

Das EPPO ist als unteilbare Einrichtung der Europäischen Union mit dezentraler Struktur ausgestaltet (siehe dazu: EPPO stellt Strafverteidiger in der EU vor neue Herausforderungen). Die Ermittlungsverfahren werden auf nationaler Ebene von sog. Delegierten Europäischen Staatsanwälten geführt. Allerdings verfügt das EPPO nicht über ein eigenes Strafverfahrensrecht. Stattdessen verweist die zugrundeliegende Verordnung vielfach auf das Verfahrensrecht der beteiligten Mitgliedsstaaten. Aufgrund teils missglückter Formulierungen entstehen insbesondere dann Unklarheiten über das anwendbare Recht und Rechtsschutzmöglichkeiten, wenn – wie bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen naturgemäß – mehrere Mitgliedsstaaten (und damit Verfahrensordnungen) involviert sind.

Das dem Urteil zugrundeliegende Verfahren steht exemplarisch für dieses Problem. Der betraute deutsche Delegierte Europäische Staatsanwalt hatte seinem österreichischen Kollegen u.a. die Anweisung zur Durchsuchung von Wohn- und Geschäftsräumen der Beschuldigten in Österreich erteilt. Entsprechend der Vorgaben des österreichischen Rechts beantragte und erhielt der österreichische Delegierte Europäische Staatsanwalt hierfür eine richterliche Genehmigung. In Deutschland wurden für die Maßnahmen dagegen keine richterlichen Genehmigungen beantragt. Die Beschuldigten erhoben später in Österreich Beschwerde gegen die Maßnahmen und rügten u.a. die fehlende Verhältnismäßigkeit. Das OLG Wien als Beschwerdegericht hat dem EuGH daraufhin drei Vorlagefragen zu Art. 31, 32 EPPO-Verordnung vorgelegt, mit denen es im Wesentlichen wissen wollte, ob und in welchem Umfang Gerichte im ausführenden Mitgliedsstaat (hier: Österreich) auch materielle Aspekte der Begründung und Anordnung der Maßnahme überprüfen dürfen. Der EuGH beantwortet sie in der beschriebenen – für den Beschuldigten nachteiligen – Weise.

Die Entscheidung des EuGH

Der EuGH teilt zunächst die von anderen Stimmen geäußerte Einschätzung, dass der Wortlaut von Art. 31, 32 der VO weder die Frage des zuständigen Gerichts für richterliche Genehmigungen bei grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahmen, noch die Reichweite des Prüfungsumfangs eindeutig regelt. Gleichwohl sei den Normen eine klare Kompetenzverteilung zwischen anordnendem und unterstützendem Mitgliedsstaat zu entnehmen: Anordnung und Begründung (d.h. materielle Aspekte) seien nach dem Recht des anordnenden Mitgliedsstaats von den dortigen Behörden und Gerichten, die Vollstreckung nach dem Recht des ausführenden Mitgliedsstaats von dessen Behörden und Gerichten zu beurteilen. Zur Untermauerung dieser These zieht der EuGH Vergleiche mit bereits existierenden Formen der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen in Europa, wie z.B. der Europäischen Ermittlungsanordnung oder dem europäischen Haftbefehl. Auch diesen Instrumenten liege dieselbe Kompetenzverteilung zwischen den beteiligten Mitgliedsstaaten zugrunde.

Entscheidend sind für den EuGH aber Effizienzerwägungen. Es entspreche dem erklärten Ziel der EPPO-Verordnung, eine effizientere Strafverfolgung auf europäischer Ebene zu ermöglichen. Würde man eine materielle Prüfungskompetenz der Gerichte im ausführenden Mitgliedsstaat anerkennen, wäre die angestrebte Effizienz beeinträchtigt. Sie hätte zudem zur Konsequenz, dass die Zusammenarbeit zwischen Delegierten Europäischen Staatsanwälten des EPPO voraussetzungsreicher und damit weniger effizient wäre, als bestehende Instrumente (wie z.B. die Europäische Ermittlungsanordnung). Dies käme einem „Rückschritt“ gleich. Die mit dieser Auslegung verbundenen Einschränkungen des Rechtsschutzes im ausführenden Mitgliedsstaat sollen stattdessen durch eine zusätzliche gerichtliche Kontrolle (für schwerwiegende Maßnahmen) im anordnenden Mitgliedsstaat kompensiert werden.

Bewertung und Fazit

Obwohl die Entscheidung des EuGH gegen eine materielle Prüfungskompetenz kaum überrascht, sind Ergebnis und Begründung deutlich kritikwürdig. Die vermeintlich klare Kompetenzverteilung zwischen anordnendem und ausführendem Mitgliedsstaat lässt sich mit dem Wortlaut von Art. 31, 32 der VO nur schwer vereinbaren. Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 EPPO-Verordnung wäre nämlich schlicht überflüssig, wenn die dort vorgesehene Zuständigkeit des anordnenden Mitgliedsstaats bereits – wie vom EuGH angenommen – aus Art. 31 Abs. 2 EPPO-Verordnung folgt (vertiefend auch im Hinblick auf die englische Sprachfassung Pfister jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1).

Die Auslegung des Gerichts lässt zudem die Gesetzgebungshistorie außer Acht. Die Mitgliedsstaaten konnten sich explizit nicht darauf einigen, dass alle Mitgliedsstaaten für bestimmte Maßnahmen Richtervorbehalte in ihren Verfahrensordnungen vorsehen. Mit Einführung einer solchen Verpflichtung jedenfalls bei schwerwiegenden Eingriffen setzt der EuGH eigene rechtspolitische Vorstellungen an die Stelle des gesetzgeberischen Kompromisses. Letzterer ist auch der Grund, weshalb Art. 31 EPPO-Verordnung bewusst jeden Bezug zum Konzept der gegenseitigen Anerkennung vermeidet (vgl. Herrnfeld, in: Herrnfeld/Brodowski/Burchard, EPPO, 1. Aufl. 2021, Art. 31 Rn. 6), denn die dort getroffene Regelung lässt sich gerade nicht mit anderen Instrumenten der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen vergleichen.

Die Verneinung einer materiellen Prüfungskompetenz negiert zudem die Tatsache, dass es sich bei EPPO um eine einzige EU-Behörde handelt. Deren Handeln müssen die Gerichte anhand des Verfahrensrechts überprüfen, welches die EPPO-Verordnung für einschlägig erklärt. Der Vergleich mit Konzepten, die auf die Anerkennung von Entscheidungen anderer Mitgliedsstaaten abstellen, überzeugt nicht (ausführlicher Pfister jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1). Nur ergänzend sei zudem erwähnt, dass die vom EuGH vorgesehenen richterlichen Kontrollen im anordnenden Mitgliedsstaat für den Betroffenen keinen ebenso effektiven Rechtsschutz garantieren. Denn während er im ausführenden Mitgliedsstaat (regelmäßig seinem Heimatstaat) mit Sprache und Rechtslage vertraut ist, dürfte dies im anordnenden Mitgliedsstaat nicht der Fall sein. Damit schränken fehlende Sprach- und Rechtskenntnisse den Rechtsschutz zusätzlich faktisch ein.

Die Entscheidung des EuGH reiht sich damit leider in eine unerfreuliche Entwicklung zu Beschuldigtenrechten im Ermittlungsverfahren ein, die außer Verhältnis zum Grundsatz der Unschuldsvermutung steht. Grenzüberschreitende Ermittlungsmaßnahmen in Europa werden zwar immer voraussetzungsärmer und effizienter für die behördlichen Ermittler ausgestaltet. Sie korrespondieren aber nicht mit den EU-Bürgerrechten und den entsprechenden Schutzvorschriften für Betroffene (vgl. hierzu auch Pfister jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1). Letzteres wird weiterhin den Mitgliedsstaaten überlassen, sodass zwangsläufig Schutzlücken entstehen.

Ausblick

Die Entscheidung hat weitreichende Auswirkungen für die Strafverteidigung. Der Betroffene einer grenzüberschreitenden Ermittlungsmaßnahme des EPPO kann deren materielle Rechtmäßigkeit (d.h. Tatverdacht, Verhältnismäßigkeit etc.) nicht im ausführenden Mitgliedsstaat überprüfen lassen. Er muss vielmehr im anordnenden Staat gegen die Maßnahme vorgehen. In Zukunft wird deshalb eine enge grenzüberschreitende Zusammenarbeit auf Seiten der Strafverteidigung notwendig sein, um zeitnah entsprechende Expertise in der jeweiligen Rechtsordnung verfügbar zu haben und im Sinne eines effektiven Rechtsschutzes für den Betroffenen handlungsfähig zu bleiben (zutreffend Pfister jurisPR-StrafR 5/2024 Anm. 1).

Wie richtungsweisend die Entscheidung am Ende ist, wird maßgeblich davon abhängen, wie Gerichte die sich aus ihr ergebenden Folgefragen beantworten. Zentral wird etwa die Frage sein, welche Aspekte zur Vollstreckung gehören und damit nach der vorliegenden Entscheidung auch weiterhin im ausführenden Mitgliedsstaat angegriffen werden können. Praxisrelevanz werden zudem die Kriterien entfalten, die zur Bestimmung eines „schwerwiegenden“ Eingriffs in Betroffenenrechte entwickelt werden und nach der Konzeption des EuGH folglich eine gerichtliche Kontrolle im anordnenden Mitgliedsstaat notwendig machen. Fehlt es an letzterer, eröffnet sich für den Rechtsbeistand erhebliches Argumentationspotenzial hinsichtlich möglicher Beweisverwertungsverbote.

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