Verfassungsbeschwerde in Strafsachen – Aussichtslos oder echte Chance für die Verteidigung?
Nach der jährlichen Statistik des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) liegen die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde mit leichten Schwankungen bei ca. 2 Prozent. Verfassungsbeschwerden können von jedermann erhoben werden, wenn er oder sie sich durch „den Staat“ in seinen Rechten verletzt fühlt. Entsprechend oft haben diese Klagen einen querulatorischen Hintergrund. Ermutigend sind die Erfolgsaussichten dennoch nicht. Spektakuläre Entscheidungen des BVerfG – wie jüngst die vielbeachtete und kontrovers diskutierte Aufhebung der Neuregelung der Wiederaufnahme zuungunsten des Freigesprochenen – zeigen aber, dass Verfassungsbeschwerden Erfolg haben können. Sie gehören damit zum Instrumentarium guter Strafverteidigerinnen und Strafverteidiger. Aber wann ist eine Verfassungsbeschwerde tatsächlich eine Option für die Verteidigung und was ist zu beachten?
Ausgangsüberlegung und Angriffsziel der Verfassungsbeschwerde
Mit einer Verfassungsbeschwerde können grundsätzlich Urteile und Beschlüsse der Strafgerichte angegriffen werden. Voraussetzung ist, dass zunächst im fachgerichtlichen Verfahren (hier: das Strafverfahren) der Rechtsweg ausgeschöpft worden ist. Daher müssen Berufung und/oder Revision und zulässige Beschwerden eingelegt werden, bevor der Weg zum BVerfG eröffnet ist. Zu den Beschlüssen, die mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden können, gehören beispielsweise Entscheidungen über Ermittlungsmaßnahmen wie
- Durchsuchung,
- Beschlagnahme,
- Vermögensarrest oder
- Untersuchungshaft.
Gegen die letztinstanzliche Entscheidung ist dann innerhalb eines Monats Verfassungsbeschwerde zu erheben.
Mandanten unterliegen oft dem Irrtum, dass es sich beim BVerfG um eine weitere Instanz handelt, die die angegriffene Entscheidung vollumfänglich prüft. Tatsächlich prüft das BVerfG aber nur die Verletzung von Grundrechten bzw. grundrechtsgleichen Rechten (sogenannte Justizgrundrechte, Art. 101 ff. GG). Das bedeutet, dass eine Entscheidung nach dem einfachen Recht „falsch“ sein kann, ohne dass der Betroffene auch in seinen Grundrechten verletzt ist. In solchen Fällen ist eine Verfassungsbeschwerde aussichtslos.
Eine weitere Fehlvorstellung geht dahin, dass das Ziel einer Verfassungsbeschwerde ein Freispruch und das Ende des Strafverfahrens ist. Regelmäßig stellt das BVerfG eine Grundrechtsverletzung aber nur fest und verweist das Verfahren zur erneuten Entscheidung an die Strafgerichte zurück. Und nicht jede festgestellte Grundrechtsverletzung wirkt sich am Ende auch auf die Schuldfrage aus. Daher empfiehlt es sich von Beginn an gegenüber Mandanten klar zu kommunizieren, was mit der Verfassungsbeschwerde erreicht werden kann und soll und welche Grenzen die Verfassungsbeschwerde hat.
Verfassungsbeschwerden und die Rückwirkungen der Zulässigkeitsanforderungen auf die Verteidigung
Ist die Entscheidung für die Erhebung einer Verfassungsbeschwerde erst einmal gefallen, droht häufig der Verteidigung ein unerfreuliches Erwachen: Trotz möglicher Fristwahrung lässt sich die Verfassungsbeschwerde nicht mehr in zulässiger Weise erheben!
Denn das Bundesverfassungsgerichtsgesetz (BVerfGG) und die hierzu ergangene Rechtsprechung bergen einige Fallstricke. Besonders die aus dem sogenannten Subsidiaritätsgrundsatz folgenden Zulässigkeitsanforderungen wirken weit in das Strafverfahren hinein. So kann eine Verfassungsbeschwerde nur dann zulässig erhoben werden, wenn bereits im fachgerichtlichen Verfahren jede Möglichkeit ergriffen wurde, die Grundrechtsverletzung zu verhindern oder zu beseitigen.
Was nach Ansicht des BVerfG im fachgerichtlichen Verfahren alles versucht werden muss, um dem Subsidiaritätsgrundsatz zu genügen, unterliegt erheblichen Schwankungen. Eine stringente Linie der Rechtsprechung ist nicht erkennbar. Dennoch lassen sich drei Fallgruppen benennen, bei denen die die Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes besonders relevant wird:
- Kommt es für die Entscheidung auf verfassungsrechtliche Erwägungen an, müssen diese in bestimmten Fällen bereits im fachgerichtlichen Verfahren vorgetragen werden. Richtet sich die Verfassungsbeschwerde beispielsweise gegen eine Verletzung der Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), muss hierzu auch schon im Strafverfahren vorgetragen worden sein, um eine zulässige Verfassungsbeschwerde erheben zu können.
- Übergeht das Gericht entscheidungserheblichen Vortrag des Betroffenen, verletzt dies den Anspruch auf rechtliches Gehör und hierauf muss mit einer Anhörungsrüge (§§ 33a, 356a StPO) reagiert werden. Es genügt also nicht, dass der Betroffene auf die Verletzung der Kunstfreiheit hinweist, sondern er muss auch überprüfen, ob das Gericht diesen Vortrag ausreichend berücksichtigt hat und gegebenenfalls mit einer Anhörungsrüge hierauf reagieren.
- Richtet sich die Verfassungsbeschwerde gegen eine Grundrechtsverletzung durch Verletzung des Prozessrechts (bspw. Frage eines Beweisverwertungsverbots im Zusammenhang mit EncroChat), muss im Strafverfahren mit allen möglichen Mitteln auf die Beseitigung oder Verhinderung hingewirkt werden (bspw. Verwertungswiderspruch in Hauptverhandlung, zulässige Verfahrensrüge im Revisionsverfahren).
Das Verfassen der Verfassungsbeschwerde selbst
Wurden diese Anforderungen erfüllt, steht der eigentlichen Verfassungsbeschwerde nichts mehr im Wege. Die Verfassungsbeschwerde selbst muss zunächst eine vollständige Sachverhaltsschilderung erhalten, aus der sich insbesondere auch die Zulässigkeit ergibt. Es empfiehlt sich, den bisherigen Prozessverlauf gründlich aufzubereiten und möglichst auch die relevanten Schriftsätze vorzulegen, um dem BVerfG die Prüfung zu ermöglichen, ob der Subsidiaritätsgrundsatz gewahrt wurde.
Ebenso muss dargelegt werden, dass die Monatsfrist eingehalten wurde. Was zunächst nach einem Allgemeinplatz klingt, birgt besonders für die Strafverteidigung eine (leicht vermeidbare) Fehlerquelle: Denn das BVerfGG kennt keine mit § 37 Abs. 2 StPO vergleichbare Regelung, weshalb die Monatsfrist mit der ersten Zustellung zu laufen beginnt. Sofern die Einhaltung der Monatsfrist daher nicht offensichtlich ist, muss vorgetragen werden, ob und wann die Entscheidung der Mandantschaft zugegangen ist.
Abschließend muss substantiiert dargelegt werden, inwieweit der Betroffene in seinen Grundrechten verletzt ist. Auch hier ist die Rechtsprechung wenig kohärent: Während es in älteren Entscheidungen teilweise genügte, wenn der Betroffene die Grundrechtsverletzung der Sache nach rügt, wird in neueren Entscheidungen teilweise eine dezidierte Auseinandersetzung mit der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG verlangt.
Für die tatsächliche Einreichung der Verfassungsbeschwerde ist zu beachten, dass das BVerfG aktuell noch nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnimmt. Daher müssen die Verfassungsbeschwerde und die vollständigen Anlagen entweder per Fax oder Bote eingereicht werden, wenn die Frist ausgereizt wurde. Hier ist aber ein entsprechendes Gesetz in Arbeit.
Weiterer Verfahrensverlauf der Verfassungsbeschwerde
Eine Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung. Um die Arbeitsfähigkeit des BVerfG zu gewähren, wurde das Annahmeverfahren durch die sogenannten Kammern geschaffen (§§ 15a, 93a ff BVerfGG). Hierbei entscheiden drei Richterinnen oder Richter in einer Art Vorabverfahren über die Annahme.
Die Kammer kann die Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung annehmen, wenn sie einstimmig der Meinung ist, dass sie unzulässig oder unbegründet ist. Das ist bei der überwiegenden Zahl der Verfassungsbeschwerden der Fall. Die Entscheidung kann ohne Begründung ergehen und es werden auch keine Voten mitgeteilt, was bei Verteidigung und Mandantschaft regelmäßig für Frustration sorgt. Man erhält dann im Ergebnis einen Zweizeiler mit der Mitteilung der Nichtannahme, ohne dass man nachvollziehen kann, woran die Verfassungsbeschwerde gescheitert ist.
Hält die Kammer die Verfassungsbeschwerde demgegenüber einstimmig für zulässig und begründet und sind die wesentlichen verfassungsrechtlichen Fragen bereits entschieden, kann die Kammer der Verfassungsbeschwerde auch unmittelbar stattgeben. In allen anderen Fällen ist der jeweilige Senat für die Entscheidung zuständig.
Ein guter Indikator dafür, dass man zumindest über die erste Hürde gekommen ist, ist wenn das BVerfG die Verfassungsbeschwerde an weitere Beteiligte oder Äußerungsberechtigte zustellt. Bei Verfassungsbeschwerden in Strafsachen sind das meistens das jeweilige Landesjustizministerium und der Generalbundesanwalt. Hier besteht dann auch für den Betroffenen noch einmal Gelegenheit zur Stellungnahme, bevor das BVerfG in der Sache entscheidet.
Macht also eine Verfassungsbeschwerde Sinn?
Trotz dieser teilweise ernüchternden Befunde zu den Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde in Strafsachen, sollte diese Möglichkeit nicht außer Acht gelassen werden: Denn gerade bei eingriffsintensiven Maßnahmen wie Untersuchungshaft, Beschlagnahme von Datenbeständen und Wohnungsdurchsuchungen beachten die Strafverfolgungsbehörden und Strafgerichte oftmals die Grundrechte der Betroffenen nur unzureichend. Hier können Verfassungsbeschwerden zum Erfolg führen. Aber auch an eher versteckter Stelle lassen sich Verteidigungsansätze finden: So verletzt beispielsweise die unterbliebene Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art. 267 Abs. 3 AEUV den Anspruch auf den gesetzlichen Richter, was besonders für die Verteidigung im Wirtschafts- und Steuerstrafrecht von Bedeutung sein kann. Zusammengefasst gehört die Verfassungsbeschwerde daher trotz der geringen Erfolgsaussichten in den „Notfallkoffer“ jeder Verteidigerin und jedes Verteidigers im Kampf um die Rechte der Mandanten.